Über der Klima- und dann der Coronakrise ist der Brexit zwar in den Hintergrund gerückt, aber nicht verschwunden.
Wie ist es mit der Mentalität heutiger Briten bestellt, dass sie so zahlreich aus Europa herausstreben? Diese Frage scheint besonders europäisch denkende Briten zu beschäftigen, unter denen ich besonders Jonathan Coe erwähnen möchte.
Er veröffentlichte 2019 seinen Roman Middle England (2020 unter demselben Titel auf Deutsch erschienen), dessen Titel wortwörtlich zu nehmen ist.
Es geht ihm darum, der inneren Verfassung der englischen (also nicht irischen, walisischen oder schottischen) Mittelschicht nachzuspüren.
Seinen Roman siedelt er in den vermeintlich idyllischen, aber ökonomisch abgehängten und zunehmend fremdenfeindlichen Midlands an. Weit entfernt vom quirligen, prosperierenden und multikulturellen London entdeckt er hier eine bizarre Sehnsucht nach Wiederherstellung einer (in dieser Form nie dagewesenen) Englishness.

Keine Frage, dass dieser aktuelle Roman lesenswert ist.
Meine Empfehlung bezieht sich jedoch nicht (nur) auf ihn, sondern vor allem auf seinen hundertfünfzig Jahre alten Vorläufer.
1874 veröffentlichte George Eliot (Pseudonym von Mary Ann Evans) ihren Roman Middlemarch, der gerade wiederentdeckt wurde.
Im Jahr 2015 wählten ihn internationale Literaturkritiker zum bedeutendsten britischen Roman überhaupt und stimulierten damit wahrscheinlich auch seine deutsche (und hoch gelobte) Neuübersetzung von Melanie Waltz, die erst im vergangenen Jahr erschien. Was uns am Mittelrhein mit diesem Roman verbindet und maßgeblich zu meiner Empfehlung beiträgt, ist sein Untertitel: Eine Studie über das Leben in der Provinz.
George Eliot entwirft eine typisch englische Kleinstadt um 1830, die am Beginn des Zeitalters der Industrialisierung steht. Auch diese Zeit zeichnete sich durch einen schleichenden Verfall überkommener Lebens- und Denkmuster aus, der anhand eines großen, gesellschaftlich differenzierten Figurenensembles geschildert wird.
Im Mittelpunkt steht Dorothea Brooke, eine empfindsame Vertreterin des niederen Landadels. Ihre moralische Unbedingtheit und intellektuellen Neigungen treiben sie in die Heirat mit dem wesentlich älteren Gelehrten Casaubon, der sich jedoch als ebenso pedantisch wie egozentrisch und aus der Zeit gefallen erweist. Erst ihre zweite Ehe mit dem Maler Will Ladislaw gelingt dadurch, dass Dorothea Will nach London folgt und ihn bei seiner politischen Karriere unterstützt.
Insofern ist der Roman die Geschichte einer weiblichen Emanzipation, die nichtsdestoweniger im Rahmen viktorianischer Schicklichkeit verbleibt.
Schon Florence Nightingale, so überliefert die Literaturgeschichte, hätte sich eine etwas unabhängigere Heldin gewünscht.
George Eliot selbst war weniger angepasst als ihre Heldin; sie verdiente sich ihr Geld als Übersetzerin, Redakteurin, Schriftstellerin und lebte mit einem verheirateten Mann in wilder Ehe.

Unbedingt lesenswert ist der Roman wegen seiner durchgängigen Ironie, die mit der eleganten, aber auch verschachtelten und indirekten Sprache des viktorianischen Zeitalters spielt.
Mit dieser Ironie kommentiert die Erzählerin die Geschichten der Familien Vincy, Garth und Bulstrode, die alle möglichen Themen des gesellschaftlichen Umbruchs (rivalisierende Mediziner, zweifelhafte Geschäftsleute, korrupte Bankiers, standhafte Gutsbesitzer und konformistische Karrieristen mitsamt ihren treuen, unzufriedenen oder eitlen Ehefrauen) aufgreifen. Die Kontrastfigur zu dieser geschlossenen Gesellschaft von Middlemarch ist Dorotheas zweiter Ehemann Will Ladislaw, der in gewisser Weise zwischen Innen und Außen vermittelt. Als Fremder wird er zwar immer ein Außenseiter bleiben, aber als Kosmopolit bringt er auch Ideen mit, die die Gemeinschaft aus ihrer Enge herausführen können. Umgekehrt nimmt er bei seinem Wegzug nach London eine Kenntnis mit, die ihn bei seiner Wandlung zum Politiker unterstützen wird. Nicht zufällig hat George Eliot ihren Roman um die Zeit des Great Reform Act von 1832 angesiedelt, der in einer grundlegenden Neuordnung der Wahlkreise bestand und damit das Gewicht vom aristokratisch geprägten, ländlichen Süden hin zum städtischen, industriell aufstrebenden Norden verschob, ohne indessen die Bedeutung des englischen Landadels wesentlich anzutasten.
Der Roman Middlemarch ist keine wütende Abrechnung mit dem Provinziellen an der englischen Provinz, was ein wichtiger Grund für seine ungebrochene Beliebtheit sein dürfte. Aber er ist eine kritisch-ironische Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft, in der Tradition nur noch eine Fassade für menschliche Verhältnisse abgibt, die längst durch Geld, Geschäft und Beziehungen geregelt werden. Umso ironischer wirkt die Tatsache, dass sich die heutige englische Mittelklasse in Jonathan Coe’s Roman bei ihrer Sehnsucht nach Englishness ausgerechnet an jenen Traditionen orientiert, die bereits George Eliot als hoffnungslos überholt betrachtete.

Eliot, George: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz.
Übersetzt von Melanie Walz. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.


Empfehlung von:

Prof. Susanne Enderwitz, Islamwissenschaftlerin


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